(I) Einführung und Überblick
Der 1. Juni 2023 markiert den Beginn einer neuen Ära im europäischen Patentrecht: Das neue europäische Einheitspatentsystem, bestehend aus dem Einheitspatent (Unitary Patent, UP) und dem Einheitlichen Patentgericht (EPG; Unified Patent Court, UPC), trat in Kraft. 50 Jahre nach der Einführung des Europäischen Patentübereinkommens und Millionen von angemeldeten europäischen Patenten ist dies vielleicht die bedeutendste Veränderung in der europäischen Patentpraxis. Das Einheitspatent kommt als dritte Säule zu den klassischen europäischen Patenten und den nationalen Patenten hinzu. Das Einheitliche Patentgericht wird sowohl das Einheitspatent als auch die klassischen europäischen Patente als modernes und effizientes Prozesssystem beeinflussen.
Was wird neu sein, was wird bleiben? Da die Patentlandschaft in Europa immer komplexer wird, stellen sich wichtige Fragen: Welche strategischen Entscheidungen müssen getroffen werden? Wie sollten sich Patentanmelder und -inhaber darauf einstellen, und welche Auswirkungen sind zu erwarten, wenn sie ihre Geschäfte in Europa durch patentgeschützte Innovationen flankieren? Dieser Artikel soll eine Hilfestellung bei der Beantwortung solcher und anderer Fragen geben und gegebenenfalls einen Vergleich mit dem bisher existierenden deutschen und europäischen Streitregelwerk ziehen.
Kernpunkte des neuen Systems des Einheitspatents (UP) und des Einheitlichen Patentgerichts (EPG)
Art des Schutzes
Mit der Einführung des neuen Rechtsrahmens hat der Patentanmelder auf europäischer Ebene (d. h. neben den nationalen Patenten) die Möglichkeit zu wählen zwischen
(a) dem neuen europäischen Patent mit einheitlicher Wirkung („Einheitspatent“ / UP) in den Hoheitsgebieten aller teilnehmenden EU-Mitgliedstaaten, die das Übereinkommen über das Einheitliche Patentgericht (EPGÜ) ratifiziert haben, und
(b) wie bisher das „klassische“ europäische Patent, das ein Bündelpatent ist und nach Erteilung des Patents in nationale Teile für die letztlich gewünschten validierten Länder aufgeteilt wird. Wird ein zusätzlicher Schutz für einzelne Länder angestrebt, die nicht durch das Einheitspatent nach (a) abgedeckt sind (z.B. die Nicht-EU-Länder Großbritannien oder Schweiz), muss eine Mischung aus (a) und (b) gewählt werden.
Die Wahlmöglichkeit wird zum Zeitpunkt der Erteilung ausgeübt, und zwar innerhalb einer Frist von einem Monat nach der Veröffentlichung der Erteilung. Bis zur Erteilung ist das Verfahren vor dem Europäischen Patentamt das gleiche, unabhängig von der späteren Wahl der Schutzart. Das bedeutet, dass die formellen, verfahrensrechtlichen und materiellen Anforderungen gleich sind, unabhängig davon, ob es sich um ein Einheitspatent oder ein klassisch validiertes Patent handelt.
Derzeit sind die in der Karte in Abb. 1 dargestellten und nachfolgend aufgeführten EU-Mitgliedstaaten vom neuen europäischen Patent mit einheitlicher Wirkung erfasst:
Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich, Portugal, Niederlande, Belgien, Luxemburg, Österreich, Slowenien, Dänemark, Schweden, Finnland, Estland, Lettland, Litauen und Bulgarien.
Die Karte rechts zeigt den jeweiligen Status der EU-Staaten, je nachdem, ob das EPGÜ für sie in Kraft ist (dunkelblau), ob sie das Übereinkommen unterzeichnet, aber noch nicht ratifiziert haben (mittelblau) oder ob sie den Vertrag nicht unterzeichnet haben (hellblau).
Es bleibt abzuwarten, ob die verbleibenden teilnehmenden EU-Mitgliedstaaten das EPGÜ noch ratifizieren werden, und ob Spanien, Polen und Kroatien, die dem EPGÜ bisher nicht beigetreten sind, ihre Position in Zukunft ändern werden, um dem europäischen Einheitspatentsystem letztlich zu einer vollständigen EU-weiten einheitlichen Regelung zu verhelfen.
Interaktion zwischen EPA/EPÜ und UP/EPG
Bis zur Erteilungsphase einer europäischen Patentanmeldung bleibt alles beim Alten. Insbesondere ist das Europäische Patentamt (EPA) weiterhin für die Recherche und Prüfung zuständig. Erst im Erteilungsstadium kann der Anmelder zwischen einer klassischen Validierung oder einem UP oder einer Mischung aus beidem wählen (UP und Validierung in Ländern, die nicht Vertragspartei des EPGÜ sind). Der Einspruch vor dem EPA bleibt bestehen, unabhängig davon, ob es sich um ein UP und/oder ein klassisch validiertes EP-Patent handelt.
Das neu eingeführte Einheitliche Patentgericht (EPG) ist ein gemeinsames Gericht der teilnehmenden EU-Mitgliedstaaten und der Vertragsstaaten des EPGÜ. Ein wichtiger Unterschied zur Art des Schutzes besteht darin, dass das EPG nicht nur für Einheitspatente zuständig ist, sondern auch für klassische europäische Patente, die in einem oder mehreren Staaten validiert wurden, falls das validierte Land ebenfalls ein EPG-Staat ist und falls der Patentinhaber die EPG-Anwendbarkeit nicht durch einen speziellen Antrag ausgenommen (wie später erläutert). Die wichtigste Änderung für die Prozesspraxis ist, dass eine Entscheidung des EPG einheitliche Wirkung in allen teilnehmenden EU-Mitgliedstaaten hat.
Wählt der Patentanmelder zum Zeitpunkt der Erteilung das Einheitspatent (UP) als Schutzart, so ist das EPG in den teilnehmenden EU-Ländern obligatorisch. Für klassische europäische Patente hat der Patentinhaber jedoch die Möglichkeit, während einer siebenjährigen Übergangszeit die Anwendbarkeit des EPG durch einen so genannten „Opt-out“-Antrag auszuschließen; dann gilt weiterhin das alte System der nationalen Verfahrensregeln.
Tabelle 1 gibt einen Überblick über die Aufgaben und Zuständigkeiten von EPA und EPG:
Europäisches Patentamt | Einheitliches Patentgericht* | |
Einreichung
Prüfung
Erteilung
Einspruch Berufung |
Einheitspatent (UP)
|
Verletzungsklage
(PI und Hauptverfahren) Feststellungsklage auf Nicht-Verletzung Nichtigkeitsklage |
validiertes EP-Patent* |
* das EPG ist auch für das klassisch validierte EP-Patent zuständig, es sei denn es wird durch einen Opt-Out-Antrag des Patentinhabers für nicht anwendbar erklärt
In Tabelle 2 sind die Vor- und Nachteile für die Wahl zwischen UP und Validierung des EP-Patents in den einzelnen Ländern aufgeführt. Die Entscheidung des Patentinhabers für das eine oder das andere System beinhaltet eine Abwägung der Vor- und Nachteile je nach Einzelfall.
Pro | Contra | |
Einheitspatent (UP) |
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Validiertes EP-Patent |
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Weitere positive oder kritische Auswirkungen werden nachfolgend deutlich werden, wenn die Einzelheiten des neuen Systems und die Faktoren für die Entscheidung für oder gegen das neue Recht erörtert werden.
Verfahrensrecht vor dem neuen Einheitlichen Patentgericht (EPG)
Die Verfahrensordnung des Einheitlichen Patentgerichts ähnelt in ihren Grundstrukturen und Abläufen dem deutschen Gerichtsverfahren. Allerdings gibt es beim UPC einige Besonderheiten, die zu beachten sind:
Es ist also klar, dass die Patentlandschaft und die Rechtsstreitigkeiten in Europa durch das neue Europäische Einheitspatent und das neue Einheitliche Patentgericht zwar komplexer werden, dass diese Instrumente aber effektiv zusätzliche Mittel und Wege für ein zentralisiertes, effektives und relativ kostengünstiges System zur Erlangung und Durchsetzung von Rechten eröffnen. Die Erreichung der strategischen Ziele erfordert jedoch mehr denn je eine gute Vorbereitung und die Beachtung der Besonderheiten und des engen Zeitrahmens des neuen Prozessrechts.
Weiter zum Teil 2: (II) Strategische Überlegungen zur Nutzung des neuen EU-Gerichts oder zum Opting-out
Weiter zum Teil 3: (III) Vergleich des Einspruchsverfahrens beim EPA und des Nichtigkeitsverfahrens vor dem EPG